Die niederhessische Volkstracht
Anmerkung zu den allgemeinen Voraussetzungen und zu den wichtigsten geschichtlichen und handwerklichen Merkmalen der hessischen Tracht.
I.
In einer Dichtung aus der Zeit um 1150 wird berichtet, dass Karl der Große den Bauern seines Reiches derbes Leinen für Hemd und Untergewand, Schuhe aus Rindsleder und Röcke von grauer oder schwarzer Farbe zugesprochen hat. Bilder aus dieser Zeit zeigen Bauern meist in einem hemdartigen Rock, mit hohem Strohhut oder mit einer Kragenkapuze, der Gugel. Diese Kleidung der unteren Stände blieb auch in den folgenden Jahrhunderten überall die gleiche: sie bestand fast immer aus einem groben Gewand (meist in Grau), einem halblangen, seitlich geschlitzten Kittel mit Gürtel, Ledertasche und Messer, langen, am Wanst befestigten Strumpfhosen, breiten Bundschuhen für den Mann und einem einfachen, gegürteten Kleid für die Frau. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden zum ersten Mal landschaftliche Unterschiede der Volkskleidung beobachtet und aufgezeichnet. Im 17. Jahrhundert begann dann – zunächst noch langsam – die allmähliche Trennung der verschiedenen Stände und sozialen Schichten. Bauern, Handwerker, Bergleute, und Gewerbetreibende entwickelten neben den Bürgern, Edelleuten und Höflingen der Stadt jeweils eigene Kleidergewohnheiten. Während die handeltreibenden und weltoffenen Städter sich nach der Mode der Höfe richtete, blieben die Bauern und Kleinhandwerker im ganzen mehr bei den überlieferten Kleidungsformen ihrer Vorfahren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Gegensatz zwischen Stadt und Land zunehmend schärfer; in den Städten wandte man sich, besonders seit der Französischen Revolution, einer immer schneller wechselnden Mode zu, als in der Kleidersitte der bäuerlichen Bevölkerung eine Erstarrung eintrat, die für das Bild der ländlichen Tracht charakteristisch blieb. Fast alle Trachten des 19. und 20. Jahrhunderts stammen aus jener Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kunstgeschichtlich rechnet man diese Zeit zur Barockepoche, die vor allem durch französische Kunst und Architektur geprägt wurde. Die Volkstrachten, die vor ihrer bleibenden Ausprägung viele Teile der bürgerlichen oder militärischen Kleidung übernommen haben, zeigen oftmals barocke Formen oder Kleidungselemente.
Trotz der Erstarrung kam es in der Entwicklung der ländlichen Kleidung aber nicht zu einem völligen Stillstand. Der städtische Fortschritt wirkte langfristig auch bei der Landbevölkerung, vor allem auf den Mann (Handel, Wanderjahre, Militärdienst), der die Tracht deshalb auch fast immer vor der Frau aufgab, die in dieser Hinsicht konservativer war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland kaum noch männliche Trachtenträger. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden dann nach und nach auch jene Trachtengebiete, in denen bis dahin die Frauen noch an der Tracht festgehalten haben.
II.
Das Wort „Tracht“ kommt von „tragen“. Es bezeichnet die regional unterschiedliche, traditionelle Kleidung der bäuerlichen Bevölkerung und setzt einige Merkmale voraus, die für alle eigenständigen Trachten gültig sind: Eine lebendige Volkstracht unterteilt zunächst die Trachtenträger nach den natürlichen Gruppen der Alters- und Lebensstufen; Kinder, Mädchen und Burschen, Verheiratete und Verwitwete werden so unterschieden. Bestimmte Eigenarten der Tracht, wie zum Beispiel einzelne Farben, kennzeichnen jede Gruppe, wobei vor allem die Tracht der jungen Mädchen meist einen großen Farben- und Formenreichtum entfaltet. Daneben untergliedert sich die Tracht im allgemeinen noch einmal nach verschiedenen Einzelformen, die bei den unterschiedlichen Anlässen im Jahres- und Lebenslauf Verwendung finden. Am genauesten und umfangreichsten sind fast überall die Bestimmung für die Brauttracht, bei der die Zeichen des „Jungmädchenseins“ in dem jungfräulichen Kopfputz, der besonderen Frisur, den zahlreichen Bändern und symbolhaltigen Beigaben zusammengefasst sind. In der Trauertracht leben vielfach alte Modeformen weiter, so dass diese Trachtenteile mitunter Aufschluss über frühere Formen der entsprechenden Tracht geben können. Den kirchlichen und weltlichen Feiertagen sind ebenfalls jeweils eigene Kleiderformen und –farben zugeordnet. In der werktäglichen Arbeitstracht der Männer lebt oft noch die mittelalterliche, kittelartige Hemdform aus Leinen weiter, die in ganz Mitteleuropa als Fuhrmannsbluse und Arbeitskittel bekannt ist. – Allgemein lassen sich also drei Lebensbereiche unterscheiden, für die eine lebendige Volkstracht jeweils eigene Formen und Merkmale aufweist: 1. Alltag, 2. Fest (weltliche Feste, Hochzeit usw.), 3. Kirche (Abendmahl, Trauer usw.).
Zum eigentümlichen Wesen einer Tracht zählen aber nicht nur die unterschiedlichen Einzelformen für verschiedene Anlässe oder die charakteristischen Merkmale für die einzelnen Lebens- und Altersstufen, sondern auch die allgemeinen Erkennungszeichen, wie Farbwahl und –kombination, Stoffwahl, handwerkliche Gestaltung, Schmuck, symbolische Beigaben, Frisur und Körperhaltung. Alles zusammen macht den Lebensbereich der Tracht aus und bewirkt insgesamt ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl der Trachtenträger, unter Umständen aber auch das Gefühl, weitreichenden Vorschriften und Zwängen ausgeliefert zu sein. In jedem Fall aber hat die Tracht im ursprünglichen Sinn eine ordnende Funktion innerhalb des ländlichen Alltags: Sie weist den Menschen und Ereignissen ihren Platz im Gemeinwesen, im Jahresablauf oder in der Lebensfolge zu und bewahrt ihre Träger vor willkürlichen Abweichungen, die zum Beispiel würdelos erscheinen könnten oder den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft gefährden würden.
III.
Ähnlich wie bei der Sprache oder bei dem Hausbau unterscheidet man bei der Tracht zunächst drei große Gebiete innerhalb des deutschen Sprachenraums: die Niederdeutsche Trachtenlandschaft, die Mitteldeutsche und die Oberdeutsche Trachtenlandschaft. Hessen gehört zu dem Mitteldeutschen Trachtengebiet. Im 19. Jahrhundert gab es in Hessen 27 verschiedene Einzeltrachten, von denen die Schwälmer Tracht am bekanntesten geworden ist; sie wird in manchen Büchern als „Hessentracht“ bezeichnet. Der Zahl nach und räumlich am weitesten verbreitet war die Marburger Tracht, die sich als eine der letzten Trachten Deutschlands noch im 20. Jahrhundert weiter ausgebreitet hat. Ebenfalls verbreitet war die nördlichste Tracht Hessens, die Niederhessische Spitzbetzeltracht. Im Gegensatz zu den anderen hessischen Volkstrachten ist allerdings über diese Tracht im einzelnen nur wenig bekannt, so dass man bis heute kein vollständiges Bild der Tracht entwickeln kann. Es gibt einige Aufzeichnungen und Beschreibungen, die aber untereinander sehr widersprüchlich sind und fast immer nur einzelne Teile der Tracht darstellen. So kann auch die folgende Schilderung nur allgemein sein und auf die einzelnen Merkmale der Tracht oder die Formen für unterschiedliche Anlässe nicht näher eingehen:
Die Männerkleidung entsprach in Niederhessen der allgemein üblichen Männertracht, die sich im 18. Jahrhundert vor allem aus Elementen der Militäruniform entwickelt hatte. Die Männer trugen halblange Hosen, die am Knie zugeschnallt oder – geknöpft wurden, lange weiße Strümpfe, mitunter weiße oder blaue Leinengamaschen oder auch statt der üblichen Lederschuhe lange Stiefel, ein weißes Leinenhemd mit Bündchenärmeln, eine farbige, ärmellose Weste, während der Arbeit einen ursprünglich weißen, später blauen Leinenkittel, dazu im Winter eine runde Pelzmütze oder im Haus eine Zipfelmütze. Bei feierlichen Anlässen oder in der Kirche kam über die dann schwarze Weste ein langer, schwarzer Gehrock. – Diese Tracht, die sich kaum von der Männerkleidung anderer Trachtengebiete unterschied, verschwand jedoch schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch in vielen anderen Gegenden Deutschlands die Männertrachten abgelegt wurden.
Die Frauentracht in Niederhessen bestand allgemein aus einem weißen Leinenhemd, einer Jacke mit langen Keulenärmeln (später einfache Ärmeln) und mit niedrigem Stehkragen, einem (nicht überall üblichen) Brusteinsatz aus Seide oder Satin, einem langen Rock, der etwa an den Knöcheln endete, einer Schürze mit abschließenden Borten oder Bändern, einem großen Umschlagtuch, das immer über der Brust gekreuzt um im Rücken geknotet wurde, und einer Haube, die hinten eine große Schleife mit lang herabfallenden Enden gehalten wurde. Vor allem die drei letztgenannten Trachtenteile (Schürze, Umschlagtuch und Betzel) konnten die verschiedenen Farben und Verzierungen aufweisen und so die kennzeichnende Funktion der Tracht übernehmen.
Die jungen Mädchen und Frauen trugen gewöhnlich die farbigsten Bänder und Schürzen sowie das bunteste Umschlagtuch, oft ein sogenanntes Blumentuch, das auf weißem Grund farbige Blumenmuster hatte. Mit zunehmendem Alter wurden die Farben gedeckter, die Schürze wurde einfarbig und einfacher, das Umschlagtuch erhielt einen immer mehr gedeckten Grundton, sein Blumenmuster wurde in den Farben zurückhaltender, bis das Tuch und die Tracht am Ende nur noch schwarz gehalten wurde. Dieselben Farbregeln galten für die Kinnschleife und die vorderen Bänder der Betzel, sie waren gleicherweise für die Fest-, Sonntags- und Arbeitstracht gültig. Vergleicht man die Niederhessische Tracht unter diesem Gesichtspunkt mit anderen Trachten, so fällt zunächst die nur sehr allgemein gehaltene Unterscheidungsmöglichkeiten auf, aber auch die Tatsache, dass alle Teile der Männer- und Frauentracht weitverbreiteten Grundmustern entsprachen, die im Gegensatz zu anderen Trachtengebieten kaum eigenständig weiterentwickelt wurden. Nur die Karnette oder Betzel war eine wirklich eigenständige Schöpfung der Niederhessischen Volkstracht. Sie entwickelte sich wahrscheinlich aus einer ursprünglich schleifenlosen kleineren Haube und fand in der kurzen Zeit zwischen 1850 und 1880 ihre Verbreitung in über 200 Dörfern, wogegen zum Beispiel die Schwälmer Tracht während ihrer ganzen Vorkommenszeit in nur 30 Dörfern beheimatet war. Hergestellt wurde sie von Betzelfrauen, die zum Teil einen Kundekreis mit einer Ausdehnung von 30 Kilometern gehabt haben soll. – Neben der üblichen Spitzbetzel, die zu Festtags- und Ausgehtracht aufgezogen wurde, gab es noch eine kleinere „stumpfe“ Betzel ohne Bänder, die entweder in farbiger Ausführung bei der werktäglichen Arbeit oder in schwarzer Ausführung zum Abendmahl aufgezogen wurde, wobei dann über die Haube noch eine weiße Plisse-Haube, die sogenannte „Ziehbetzel“ gezogen wurde.
Um 1880 zogen die jungen Mädchen unter 20 Jahren in den meisten Dörfern Nordhessens schon keine Betzeln mehr auf, so dass die eigentliche Lebensdauer der vollständigen Tracht nur etwa 30 Jahre lang betrug und zudem in einen Zeitraum fiel, in dem die Männertrachten Niederhessens bereits ausgestorben war. Im umfassenden Sinne ist also die Spitzbetzeltracht niemals eine eigentliche Volkstracht gewesen, sondern genaugenommen nur eine Frauentracht. Die letzte wirkliche Niederhessische Volkstracht fällt zeitlich vor die Entstehung der Spitzbetzel in die Jahre zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Männer noch nicht die städtische Röhrenhose übernommen hatten, die seit der Französischen Revolution überall in Mode gekommen war. Das Bild jener ursprünglichen Tracht kann heute jedoch kaum noch rekonstruiert werden.
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